Verga und der Verismus: Wahrheit statt Schönheit

Verga und der Verismus: Wahrheit statt Schönheit
Verga und der Verismus: Wahrheit statt Schönheit
 
Die literarische Strömung des Verismus manifestierte sich in Italien in den letzten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts. Der Name (von italienisch »vero« = wahr, echt) verweist bereits auf das Hauptmerkmal der Bewegung: die aus genauer Beobachtung erwachsende, glaubwürdige Reproduktion der Realität in einem entpersonalisierten Stil. Die Forderungen, Literatur solle sich an der Wirklichkeit orientieren, diese mit wissenschaftlicher Akribie analysieren und somit schonungslos auch das Elend der unteren Schichten beschreiben sowie die Reduzierung des Schriftstellers auf die distanzierte Beobachterposition, waren bereits aus Frankreich durch die theoretischen Aussagen und Romane Flauberts, Maupassants und vor allem Zolas bekannt.
 
In Italien fanden sie in einer Reihe aus Sizilien stammender Autoren, allen voran Giovanni Verga und sein Freund Luigi Capuana ihre Nachahmer. In zahlreichen Novellen und Romanen griffen sie die herrschende politische Desillusionierung auf, die dem Enthusiasmus über die vollzogene nationale Einigung folgte. Sie zeichneten die erbärmlichen Lebensbedingungen der sizilianischen Landbevölkerung auf, die Verhältnisse im rückständigen Süden, der zunehmend verarmte, da sich das Gefälle zum recht wohlhabenden fortschrittlichen Norden zunehmends vergrößerte. Sowohl Verga als auch Capuana, der insbesondere als Theoretiker des Verismus hervortrat, stammten jedoch aus reichen Familien von Großgrundbesitzern, und es bedurfte der Distanz, um ihre Sensibilität für die neuen Realitäten zu wecken.
 
Beide verließen ihre Heimatinsel und traten zunächst in Florenz und später in Mailand mit dem kulturellen Leben der Zeit in Kontakt. In diesem Umfeld debütierten Verga und Capuana mit im bürgerlichen Milieu spielenden Romanen naturalistischer Prägung. Vor allem Capuanas »Giacinta« (1879) wurde ein großer Erfolg. Er zeichnet das Psychogramm einer vergewaltigten Frau, deren Unfähigkeit zu lieben sie ins Unglück stürzt. Der Aufenthalt in Mailand führte Verga seine Entfernung vom raffgierigen, fortschrittshörigen Bürgertum des Nordens vor, und er besann sich auf die archaisch-ländliche Bevölkerung seiner Heimat.
 
Als erster Ausdruck des Verismus gilt die Novelle »Nedda« (1874). In ihr wendet sich Verga erstmals thematisch den untersten Schichten Siziliens zu, indem er das Schicksal der Plantagenarbeiterin Nedda beschreibt, deren Leben durch harte Arbeit und folgenschwere Todesfälle ihr nahe stehender Personen in den Untergang führt. Das Thema des zum Scheitern verurteilten Lebenskampfes erprobte Verga auch in weiteren Novellen der Sammlung »Landleben« (1880).
 
Das Hauptwerk des Verismus ist der Roman »Die Malavoglia« (1881). Darin erzählt Verga die tragische Geschichte der Fischerfamilie Malavoglia aus dem sizilianischen Dörfchen Aci Trezza, deren Streben nach finanziellem Aufstieg in den vollkommenen Ruin führt. Der Abstieg nimmt seinen Lauf, als eine auf Kredit gekaufte Ladung Lupinen mit dem Schiff der Familie untergeht und der Sohn des Familienoberhauptes 'Ntoni dabei umkommt. Von diesem Schicksalsschlag erholt sich die Familie nie wieder: die Enkel werden zum Militär eingezogen, einer stirbt im Feld, der andere wendet sich vom traditionellen Fischerleben ab und endet bald als Säufer und Schmuggler im Gefängnis. Der Großvater 'Ntoni verliert schließlich das Haus der Familie, da er in seinem naiven Glauben an traditionelle Werte und Ehrvorstellungen zur leichten Beute der gegen ihn geführten Intrige wird. Die Familie, zuvor Rückhalt und Versicherung des Einzelnen, fällt auseinander. Streng nach den Regeln des Verismus scheint das Geschehen sich hierbei selbst zu tragen, der Erzähler bleibt unsichtbar, Reflexion und Kommentar übernimmt das Kollektiv der Dorfbewohner, die das Schicksal der Familie Malavoglia mit Spott und Schadenfreude begleiten. Auffallend ist die genaue Wiedergabe der Sprache der Fischer, die durch die Verwendung von Spitznamen, Sprichwörtern und mundartlich gefärbten, einfachen Dialogen in erlebter Rede immer wieder den Eindruck von Unmittelbarkeit erzeugt. »Die Malavoglia« war von Verga als erster Band eines Zyklus »Die Besiegten« geplant, in dem der Autor seiner düsteren Sichtweise der kollektiven Zukunft quer durch alle Schichten Ausdruck geben wollte. Doch nur den zweiten Band »Mastro-don Gesualdo« (1889), der das Leben eines an seiner Habgier scheiternden Landadligen schildert, stellte Verga noch fertig.
 
Der Adel war auch der Gegenstand der literarischen Beobachtungen des jungen Veristen Federico de Roberto, der in dem Roman »Die Vizekönige« (1894) mit großer Schärfe darstellt, wie das alte Geschlecht der Uzeda es auch in der jungen Demokratie schafft, sich das gesellschaftlich politische System zur eigenen Bereicherung zunutze zu machen. Die Unveränderbarkeit der sozialen Grundstrukturen wird deutlich, wenn de Roberto beschreibt, wie die Familie ihr Verlangen nach Macht skrupellos auslebt: Konservative werden zu Liberalen, da sich so die Gelegenheit bietet, die religiösen Orden zu schröpfen, sie verschaffen sich ihren Sitz im Parlament durch Bestechung. Egoismus und Machtstreben bleiben historisch konstant, nur der Schein der äußeren Umstände ändert sich, wie der junge Uzeda feststellt: »Als es noch Vizekönige gab, waren die Uzeda Vizekönige, jetzt, wo wir Abgeordnete haben, sitzt der Onkel eben im Parlament.«
 
Auch Capuana legte mit »Der Marchese von Roccaverdina« (1901) einen veristischen Roman aus dem Landbesitzermilieu vor. Wie auch Verga war er in den späten Jahren jedoch vor allem mit der Umsetzung veristischer Themen für das Theater beschäftigt. Anders als sein Freund, der hauptsächlich seine Novellen in Bühnenfassungen umarbeitete, schrieb er jedoch eine große Zahl neuer Stücke, in denen er den Dialekt als Bühnensprache zu etablieren versuchte.
 
Andrea-Eva Smolka
 
 
Hardt, Manfred: Geschichte der italienischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Düsseldorf u. a. 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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  • Verga — Vẹrga   [v ], Giovanni, italienischer Schriftsteller, * Aci Castello (bei Catania) 31. 8. 1840, ✝ Catania 27. 1. 1922; studierte Jura in Catania, war dann Schriftsteller und Journalist, lebte ab 1865 in Florenz, ab 1872 in Mailand, zuletzt… …   Universal-Lexikon

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